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blanche wittmanns busen… (vollversion)

Bernhard Schlage, 2011

blanche wittmans busen

einführung in die besonderheiten des übertragungsgeschehens bei psychosomatischen erkrankungen

sie war jung. sie war schön. alle wussten, dass doktor jean-martin charcot seine lieblingspatientInnen hatte. sie gehörte zu ihnen. bis zu fünf mal täglich führte er seine hypnotischen seancen im kreise der kollegen durch. alle mit frack und hochgeschlossenen hemden. manche mit zwickel. alle waren begierig, sie zu sehen. die frauen der salpetiere von paris. brouillet hinterließ der nachwelt ein wunderbares gemälde dieser szene (s. links).

es gab die kranken alten, die schizophrenen, die eingebildeten kranken und es gab die hysterischen. jene hatten es dr. charcot besonders angetan. und von ihnen besonders solche wie blanche wittman auf dem gemälde: hochgeschnürtes, weit geöffnetes dekolleté, wunderschöne augen und eine archaische wildheit. wir dürfen darüber fantasieren, was die herren doktoren im raum denn wohl so besonders an diesen seancen angezogen hat.

blanches mieder war eng geschnürt. sie konnte kaum atmen. all diese herren um sie herum und dann die berührungen des doktors. charcot hatte kenntnisse über akupressurpunkte. er griff unter ihren rock, auf die innenseite ihrer beine. man stelle sich das vor: zu einer zeit, ende des 19. jahrhunderts: queen victoria liebt ihren coburger, der prince of wales war auf öffentlich kommentierten abwegen und oscar wilde kokettierte literarisch mit seiner verkommenheit.(2) in dieser zeit muss es ein ereignis gewesen sein. wir vermuten richtig, dass er einige punkte am lebermeridian berührte und blanche bekam auf der stelle starke strömungsempfindungen im leib, die sie zu vulkanischen ausbrüchen von lebensenergie führten. diese wurden als merkmale ihrer hysterischen erkrankung verstanden. und charcot war geschickt darin, sie anschließend durch weitere berührungen wieder zu beruhigen und ihre symptomatik zum abklingen zu bringen.

wir haben es per olov enquist zu verdanken, dass er mit dem ‚book of the questions‘ erstmals die unveröffentlichten tagebücher von blanche wittman der öffentlichkeit zugänglich machte.(3) selbst wenn diese texte nicht authentisch sind, wie bereits diskutiert wird,(4) so verdanken wir es enquists erzählkunst, dass wir heute nachempfinden können, wie es ihr gegangen sein muss.(5)

im publikum saß der uns allen bekannte sigmund freud in jungen jahren. wir müssen uns die vibrierende, charismatische und hypnotische szene der damaligen zeit vorstellen: ärzte versuchen sich öffentlich in der anwendung schamanischer heilungstechniken. die dramatischen wirkungen der mischung aus verbalen suggestionen, körpermassage und akupressur, die charcot, bernheim und breuer damals bei ihren patientInnen verwendeten.

freud kehrte begeistert über die neuen behandlungsmöglichkeiten nach wien zurück und begann, damit zu arbeiten. er hatte keine der heutigen ausbildung von körperpsychotherapeutInnen vergleichbaren qualifikationen: keine 600 stunden grundlagentraining in körperpsychotherapie; keine supervision; keine begrifflichkeiten zum umgang mit dem vasomotorischen zyklus (6), und es geschah, was geschehen musste: in einer seiner behandlungen sprang seine patientin am ende der sitzung auf und umarmte ihn inniglich aus dankbarkeit für jene erleichterung, die sie erfahren hatte. überwältigt und von seelischem schmerz berührt versuchte freud, fortan wege zu seelischer erleichterung ohne berührung zu finden.(7)

warum alexander lowen plötzlich laut schrie?

wir können heute in jedem training für körperpsychotherapie diese szene wieder finden: vom plötzlichen auftauchen tiefer seelischer empfindungen und daraus folgenden spontanen handlungen. alexander lowen beschreibt, wie er in einer seiner ersten sitzungen bei wilhelm reich plötzlich anfing, auf die behandlungsmatratze einzuschlagen und dabei das gesicht seines vaters vor seinem inneren auge sah.(8) und wir haben gelernt, mit diesen szenarien umzugehen.
und es war bowlby, der uns verständlich machte, was wir heute in der szene mit blanche wittman sehen können: übertragung ist ein wechselspiel zwischen patientInnen und ihren behandlerInnen. es gibt einen ständigen signalfluss zwischen menschen, der sich in der therapeutischen situation wahrnehmen und choreographieren lässt.(10)

seine mitarbeiterin, mary ainsworth, entwickelte schließlich die sogenannte ‚fremde situation‘: ein rollenspiel, bei dem mutter und kind einen fremden raum mit spielsachen betreten. sie untersuchte, wie sich die kinder in beziehung zur mutter verhalten, während sie den raum um sich explorierten. wann sie sich von der mutter weg bewegten, wann sie zu ihr hinblickten, um sich ihrer gegenwart zu versichern und was geschah, wenn die mutter den raum verließ. aus diesem einfachen versuchsaufbau wurde uns deutlich, dass bindungs- verhalten gelernt wird und dass es verschiedene bindungsmuster gab, die sich in der therapeutischen beziehung gut wahrnehmen und entwickeln ließen.(11)

wir entdeckten dabei etwas grundlegendes: die voraussetzung für jede art sozialer wahrnehmung, und natürlich besonders im umgang mit klientInnen, ist eine wahrnehmung des eigenen, körperlichen selbst. werde ich mir meiner befindlichkeiten in gegenwart einer/s klientIn bewusst, erlange ich zugang zu ressourcen für therapeutische strategien. daniel stern bestätigte diese wahrnehmungen später durch die ergebnisse seiner säuglingsforschung.(12)

in vielen beruflichen supervisionen taucht diese frage von kollegInnen wieder neu auf: sollen wir wirklich auf unsere eigenen empfindungen im therapieprozess achten? müssten wir nicht gerade lernen, diese zurückzustellen hinter eine wahrnehmung des/r klientIn? und immer wieder lautet die antwort, dass ohne ein eingeständnis in das besondere der momentanen eigenen befindlichkeit die pforte zur wahrnehmung des anderen verschlossen bleibt. wir sind existenziell unseren eigenen sinnen ausgeliefert; oder wie merleau-ponty es in der tradition der sensualisten des 17. jahrhunderts ausdrückte:

‚wir können die welt nur deshalb denken, weil wir sie zunächst erfahren.'(13)

oder etwas moderner: ‚bedeutung wurzelt im tun und tun ist von einer verkörperlichung abhängig. tatsächlich ist dies alles eine mühsam erworbene erkenntnis, die die gemeinschaft der forscher, die sich mit künstlicher intelligenz beschäftigten, nach einzigen mir bekannten autoren sind, die sich die mühe geben, das erleben der betroffenen aus der innenansicht zu beschreiben: wie fühlt sich eine person, die aufgrund einer beginnenden demenz bemerkt, dass ihr die geschichte dessen, was sie im leben gewesen ist, verloren geht.(16)

sicher können wir durch eine gute und ausreichende anamnese jene informationen einholen, die wir brauchen, um ein verständnis des erlebens und der erkrankung unserer klientInnen zu erhalten. was aber wäre, wenn wir eine landkarte entwickeln würden, die uns erlaubt, aufgrund unserer spezifischen empfindungen im (gegen-) übertragungsgeschehen rückschlüsse auf dessen psychosomatische beschwerden und hinweise für den umgang mit ebendiesen erhalten könnten?!

typische deformationen des beziehungsdialoges mit psychosomatisch erkrankten klientInnen

tauchen körpersymptome auf, wird der beziehungsdialog verändert. in manchen beziehungen treten die bedürfnisse des symptoms anstelle eines dialoges über die wechselseitigen empfindungen: „du musst dich jetzt zusammennehmen. wegen seinem bluthochdruck darf vati sich nicht mehr so aufregen!“; oder „halte dich heute zurück, mutti hat die ganze nacht wegen ihrer haut nicht schlafen können!“ in anderen beziehungen tritt der austausch über das symptom in den mittelpunkt des ganzen familiären dialoges. und andere bedürfnisse, wie jene nach nähe/kontakt oder nach abgrenzung und individuation finden keine berücksichtigung mehr. aspekte, die alexander mitscherlich bereits 1961 beschrieb! (17) betroffene mögen entdecken, dass sich familienmitglieder auf die eigenen bedürfnisse eher beziehen, wenn diese mit einem symptom verknüpft werden: so entdeckt klein-greta, dass die ungeliebte reise zu den freunden der eltern unterbrochen werden kann, weil sie mal ‚pipi machen‘ muss. wird die kombination zwischen miktionsverhalten und veränderung der familiären beschäftigungen häufiger auftreten, lernt klein-greta, dass sie mit ihrer blase einen einfluss zugunsten ihrer eigenen bedürfnisse nehmen kann; ein aspekt, der in der frauenärztlichen, psychosomatischen beratungspraxis berücksichtigung findet.(18)

fassen wir hier also zusammen, dass beziehungen mit psychosomatisch erkrankten personen ganz spezifische deformationen erleiden. hier seien dazu mehrere beispiele aus dem psychosomatischen praxisalltag genannt, wie sich für geübte behandlerInnen diese veränderungen des dialoges wahrnehmen lassen:

neurodermitis: sie haben einen speziellen geruch – meist etwas staubig, wenn sie nicht bereits starke medikamente nehmen; irgendwann fühlst du in ihrer nähe den impuls, dich zu kratzen; dann gibt es etwas auffälliges im kontakt s… eine ambivalenz zwischen dich zum berühren eingeladen-fühlen oder umgekehrt distanz zu bewahren. für die sensitiven unter uns behandlerInnen gibt es auch die besonderheit des empfindens der haut zu beschreiben: diese fühlt sich bei berührung wie taub an, nicht richtig geladen und reagiert nur verzögert auf unsere berührungen.

kopfschmerzen: du fühlst im kontakt eine schläfrigkeit/stumpfheit im augenausdruck; es mag dir eine spannung im nacken und im rückenbereich/am blasenmeridian entstehen; bei migräne- patientInnen magst du auch eindrückliche visuelle veränderungen erleben; du wunderst dich über den raschen, abrupten themenwechsel im gespräch. und es erscheint dir schwierig, die konzentration deiner/s gesprächspartnerIn vom schmerz weg, hin zu einem tieferen verständnis der abgewehrten emotionalen aspekte im kontakt zu bewegen.(19)

anorexie: sie wirken auf dich sehr bedürftig; vielleicht ist auch ihre magerheit bereits auffallend; es erscheint dir, als wollten sie auf keinen fall berührt werden; du merkst ihre unsicherheit gegenüber der ansprache von gefühlen und erschrickst über die heftigkeit, mit der sie beziehungsdynamiken bewerten; häufig in form vorweg genommener entwertungen von sich selbst/anderen; auch werten sie ihre geschlechtliche rolle stark ab; im gespräch verschwindet langsam dein gewahr-sein deines körpers; vielleicht fühlst du dich wie in einem taucheranzug.(20)

diabetes: du fühlst eine blockade in der gegenseitigen leiblichen pulsation; du findest eine härte gegen sich selbst/andere; früher oder später entsteht auch ärger im kontakt, den dein diabetisch erkranktes gegenüber als regressive neigung ausdrückt und auf versagte orale befriedigung beziehen wird, statt auf die qualität des kontaktes; selten habe ich solche rigidität im kontakt bemerkt, wie mit diesen patientInnen.(21)

asthma: das gefühl der anstrengung beim atmen überträgt sich; auch die atemfrequenz ist i.d.r. erhöht; bei übungen können sie sich nicht wirklich entspannen (sympathikotonie!); du spürst empfindungen von angst im raum, die aber nicht verbalisiert werden (können); ich empfinde häufig eine auffällige reduktion des atem- verständnisses auf das bloß physische (nicht-)funktionieren – die im atem angelegte bindungsdynamik wird rasch abgewehrt; ggf. anamnestisch bekannte schwierigkeiten bei der geburt abklären.

morbus chron/colitis: wir empfinden mitgefühl mit der körperlich- seelischen tiefe des schmerzes, wir fühlen uns von deren erlebenswelt angezogen und reagieren auf die verletzlichkeit/ zartheit deren erscheinens. wir arbeiten besonders langsam und vorsichtig und ringen mit der befürchtung, es könnte doch alles zu viel, zu doll und nicht zum rechten moment geschehen. man könnte das als ambivalenz empfinden, aber ich fühle viel stärker einen nicht verwundenen schmerz/verlust im kontakt.(22)

für die körperpsychotherapeutische behandlung kann dies eine erweiterung der diagnostik bedeuten: als behandelnde erlaubt uns das genaue wahrnehmen des übertragungsgeschehens ein feedback über die besonderheiten der psychosomatischen erkrankung unseres gegenübers.

diese wahrnehmungen in verbindung mit unserem wissen können der arbeit auch eine krankheitstypische richtung geben. so sehr wir einerseits offen zu bleiben haben, für die besonderheiten des menschen und seiner lebenserfahrung, die/der uns als klientIn aufsucht, so sehr können wir im sinne einer heilung zügig die vermuteten spezifischen seelischen bereiche unserer klientIn anhand der deformationen im beziehungsdialog ansteuern und gezielt wieder zu vervollständigen lernen. wir können landkarten darüber erstellen, was das besondere an jenem umweg im dialog darstellt, die dieser mensch vor uns erfährt. und mit hilfe dieser landkarten können wir im rahmen des übertragungsgeschehens gezielt und planvoll die vervollständigung des beziehungsdialoges betreiben.

was also ist jener konflikt, den die neurodermitisch erkrankte klientin auf dem wege des kratzens agiert, anstatt einen beziehungsdialog zu gestalten? welche spannung manifestiert sich wiederholt im kopfschmerz unseres patienten und wie könnte er dieser spannung in unserem dialog einen anderen ausdruck geben? wie könnte unsere klientin anstatt mit verdauungsproblemen in bedürftigkeit zu regredieren einüben, ihre unterschiedlichen emotionalen bedürfnisse zu unterscheiden und eine sprache im beziehungsdialog dafür entwickeln? fragen, die den körperpsycho- therapeutischen dialog bereichern.

therapeutische neutralität verhindert die vervollständigung des beziehungsdialoges

doch bis hierhin würden wir noch immer fokussiert bleiben auf den dialog zwischen klientIn und therapeutIn; inklusive jener haltung, die besagt, dass einer von beiden die beziehung formt und entwickelt. im sinne des therapeutischen auftrages; wenn es gut geht. wir würden einräumen, dass nach dem bekanntwerden der spiegel-nervenzellen durch giacomo rizzolati (23) der dialog weniger einseitig geworden ist. es ist heute nicht mehr wie zu freuds zeiten, als blanche wittmans hysterien behandelt wurden, ohne über die rolle der neugierig erregten doktoren im raum besonders nachzudenken. heute wissen wir, dass unsere haltung und unser verhalten sich ganz wesentlich auf die gestaltung der therapeutischen beziehung auswirken. wir wissen, dass der versuch der therapeutischen neutralität das lernen in dieser beziehung erschwert und dass es im gegenteil wichtig für eine genesung unserer klientInnen geworden ist, die deformation und unvollständigkeit des beziehungsdialoges wieder herzustellen.

verfolgt man den offiziellen europäischen diskurs zu diesen fragen weiter, so finden wir weitere berichte: ob in stanley kelemanns ‚körperlicher dialog in der therapeutischen beziehung'(24), immer wieder stoßen wir auf erstaunliche berichte von kollegInnen, die beschreiben, dass etwas umfassendes, quasi im beziehungsfeld befindliches sie und ihr verhalten aufgeträumt habe: nehmen wir ein beispiel von einer körperpsychotherapeutischen fachtagung, die 2007 an der freien universität berlin stattgefunden hat. peter heinl beschreibt in seinem fallbeispiel, wie er ausgehend von der erzählung einer klientin ‚ohne den grund für mein weiteres vorgehen zu wissen‘ drei gegenstände auf den praxisfußboden legte: ein koalabärchen, ein weißes taschentuch und einen schweren handgeschmiedeten schlüssel.

auf nachfragen assoziierte nun die klientIn mit dem koalabärchen sich selbst als säugling, mit dem taschentuch windeln und zusätzlich fantasierte sie zu dem holzfußboden jene hölzernen dielen, auf dem sie in ihrem kinderbettchen liegend die geräusche von schritten hören könnte, wenn sich ihr jemand näherte. mit dem schlüssel konnte sie zunächst nichts anfangen. erst als heinl den schlüssel scheinbar belanglos mit den füßen auf dem boden bewegte, entfuhr der klientIn ein plötzlicher schrei und sie erinnerte eine eindrückliche szene aus ihrer kindheit, in der sie ein blutverschmiertes tüchlein im ofen verschwinden sah und den sich abwendenden vater. in einem jahrelangen therapieprozess hatte die klientin zunächst aspekte eines sexuellen missbrauchs erinnert und nun, in dieser szene ließen sich alle einzelaspekte zu einem gesamtgeschehen zusammenfügen.(25)

man könnte meinen, dass dem ganzen doch eine künstliche situation anhaftet: wann haben wir schon einen koalabären und einen schweren schlüssel zufällig zur hand? oder zumindest, dass kollege heinl hier im rahmen eines intensivseminars zufällig die ernte monatelanger, frustrierender detailarbeiten einer/s kollegIn einfährt. das mag auch stimmen und gleichzeitig kennen längerpraktizierende doch diese situationen im therapeutischen alltag: wo wir plötzlich dinge tun oder sagen, bei denen wir uns später nach gründlichem nachdenken fragen, wie wir darauf gekommen sein mögen. es gab beispielsweise nur dieses kleine, zufällige knarzen der sitzgelegenheit, dass in einer therapiestunde solch‘ weitreichende wirkung auf das unbewusste der klientIn hatte; jenes detail der kleidung, dass die klientIn an ihren vater, der von beruf pastor war, erinnerte und ein tor zu vielen erinnerungen aufstieß.

wir betreten also einen bereich der therapeutischen beziehung, in dem weder die/der klientIn aktiv projizieren, noch der/die therapeutIn gezielt mit gegenübertragungstechniken arbeitet (denn dann könnten wir beschreiben, mit welcher intention wir welches verhalten unternommen hätten). vielmehr scheinen sich beide in einer art trancezustand zu befinden.

so wie kollegInnen früher glaubten, einen scheinbar objektiven beobachterstatus beschreibbarer psychischer erkrankungen einnehmen zu können, so mussten wir lernen, dass wir teil eines dialoges sind, der zu einem teilaspekt durch unser verhalten und unsere eigenen auslassungen im kontakt mitbestimmt wird. wir wurden in unserem verhalten vollständiger und nun müssen wir uns offensichtlich damit auseinandersetzen, dass es wirklichkeiten gibt, die ihrerseits unser handeln und das unserer klientInnen beeinflussen, ohne dass wir diese choreographieren könnten. eine beunruhigende situation, die uns die gewissheit nimmt, zu wissen, wer wir sind und was wir in der psychotherapie eigentlich tun.

arnold mindell, seines zeichens physiker und jungscher analytiker, nähert sich mit naturwissenschaftlichen erklärungen diesem phänomen in seinem buch: ‚der verborgene code des bewusstseins‘. er schreibt: ‚was immer sie in der konsensusrealität beobachten – sei es ein elektron, ein tier, das universum oder eine andere person – ,wird im bereich des träumens zu etwas von ihnen untrennbaren. in der konsensusrealität kann man nicht sagen, wo der quantenflirt entstand – ob in ihnen oder in mir. die ununterscheidbarkeit erscheint in der mathematik der physik als symmetrie (…) in der nicht-konsensus-realität könnte das, was wir DU nennen, ebenso gut ICH genannt werden.'(26)

nun werden einige kollegInnen meinen, dass das doch bekannte übertragungsphänomene bei niedrig strukturierten klientInnen mit schwachen ich-grenzen seien. vielleicht. vielleicht aber weist uns mindell auf etwas viel tiefgehenderes hin und unser erschrecken darüber verhindert unser erkennen. so wie es den entdeckern der quantenphysikalischen grundlagen in den 20er jahren des letzten jahrhunderts erging: wir befinden uns mit unserer wahrnehmung in einem kokon. erinnern wir uns an merlot-pointys aussage weiter oben in diesem text. erinnern wir uns also an die notwendigkeit, immer wieder unser eigenes befinden an den anfang unserer wahrnehmungen im therapeutischen dialog stellen zu müssen. ohne zweifel ist es wichtig, die einschränkungen der eigenen wahrnehmungsmöglichkeiten im rahmen unserer lehranalyse genauer zu erkunden und zu erweitern zu versuchen. ebenso, wie es wichtig ist, unsere eigenen wahrnehmungen unser berufsleben lang supervisorischem feedback auszusetzen. und trotz all dieser bemühungen scheint es noch etwas weitergehenderes in der therapeutischen beziehung zu geben.

andere kollegInnen werden auf die pränatalen matrixen verweisen, wie stanislaf grof sie uns in seinem werk ‚topographie des unbewussten‘ übermittelt hat.(27) sicher müssen wir uns damit beschäftigen, ob sich der uns öffnende erfahrungsraum möglicherweise aus einer regression in vorsprachliche, ja vorgeburtliche erlebensweisen der klientInnen erklären ließe. vielleicht. wir haben uns zu fragen, ob wir mit einer situation, die ken wilber die prä-/trans-verwechslung nennt, zu tun haben.(28): d.h. ob wir möglicherweise den regressiven zustand der erlebens im mutterbauch (= prä-rational) verwechseln mit dem kontakt der person zu einem post-rationalen, weitgehenden kontakt zu einem ‚umfassend unbekannten‘.(29) wir können uns vor der therapie informationen über die erlebniswelt der klientInnen einholen, um den kontext der übertragungserfahrungen definieren zu können und bleiben notwendig diesem unbekannten ausgeliefert. wir können uns dem größenwahn hingeben, alle hintergründe der klientInnen genau zu kennen, oder dem zwang erliegen, alle therapieerfahrung im kontrollierbaren halten zu wollen. es mag sein, dass wir angst vor dem großen, weiten unbekannten empfinden; und auch unsere kindliche befürchtung vor dem überwältigt-werden durch die gefühle erwachsener mag auf dieser ebene eine rolle spielen. und es bleibt, dass wir den neuen, aus der quantenphysik kommenden interpretationen des übertragungsgeschehens einen raum geben können: wir sind gemeinsam mit unseren klientInnen teil einer wirklichkeit, die auf uns wirkt. und wir können nicht ausschließen: psychosomatische symptome könnten auch ‚bewusstseinskräfte von wesen aus parallelen welten sein, die uns auf die nächsten schritte unserer menschlichen evolution hinweisen.'(30) er schreibt das als physiker und er fordert uns damit auch auf, die psychotischen interpretationen der wirklichkeit betroffener klientInnen von jenen, deren symptome ein gewisses genie zur korrektur von lebenserfahrungen beinhalten, unterscheiden zu lernen.

literaturhinweise

  • (1) aus: möller, laux, deister (hrsg.); psychiatrie; stuttgart 1996; s. 220; gemälde von 1887
  • (2) reinhold dörrzapf; eros, ehe, hosenteufel; münchen 1998; s. 298ff
  • (3) book of the questions; in: the story of blanche and marie; london 2006
  • (4) asaf rolef ben-shahar; in: psychotherapy and politics international 8; 3: 213-226; 2010
  • (5) wenn ich im folgenden von ‚wir‘ und ‚uns‘ spreche, so verwende ich diesen begriff in diesem artikel undifferenziert als sprachliches mittel, um eine einnehmende, identifikation auslösende haltung bei jenen leserInnen auszulösen, die selbst im bereich der körperpsychotherapie mit berührungen arbeiten.
  • (6) anton eckert; in: postural integration; eine methode ganzheitlicher körperarbeit; berlin 1992; s. 9
  • (7) sigmund freud; an autobiographical study; london 1959; pp.1-74; sinngemäße übersetzung durch den autor
  • (8) bioenergetik; münchen 1975; s. 12
  • (9) karl heinz brisch; bindungsstörungen; stuttgart 1999; s. 30 
  • (10) karl heinz brisch; a.a.o; s. 35ff
  • (11) karl heinz brisch; a.a.o; s. 44ff
  • (12) die lebenserfahrung des säuglings; stuttgart 1998
  • (13) merleau-ponty; das primat der wahrnehmung; frankfurt/main 2003; s. 34
  • (14) sandra & matthew blakeslee; der geist im körper; heidelberg 2009; s. 13
  • (15) irren ist menschlich, bonn 1996
  • (16) dörner/plog; a.a.o.; kapitel ‚landschaft ohne boden‘; s. 245f
  • (17) in: psyche; band 15/1; die chronifizierung psychosomatischen geschehens; s. 1-25
  • (18) thure von uexhüll; psychosomatische medizin; münchen 1996; s. 1061f
  • (19) isabell azoulay; schmerz – die entzauberung eines mythos; berlin 2000
  • (20) gerd rudolf; psychotherapeutische medizin und psychosomatik; stuttgart 2000; s. 252
  • (21) thure von uexhüll; a.a.o.; s. 909 (22) thure von uexhüll; a.a.o.; s. 841
  • (23) premotor cortex and the recognition of motor actions; cognitive brain research 3: 131-141; 1996; in: joachim bauer; das gedächtnis des körpers; frankfurt/main 2002; s. 12
  • (24) münchen 1990; s. 146ff; oder in tor norretranders ’spüre die welt‘, reinbek 1994; s. 18ff
  • (25) manfred thielen (hrsg.); körper-gefühl-denken; körperpsycho- therapie und selbstregulation; gießen 2009; s. 387ff
  • (26) petersberg 2010; s. 481ff
  • (27) stuttgart 2002; s. 124f
  • (28) eros, kosmos, logos; a.a.o.; s. 259
  • (29) bernhard schlage; leben in der traumhütte – schamanische traumarbeit zwischen wunscherfüllung und spionagetätigkeit; hannover 2010; s. 74ff
  • (30) in: arnold mindell; quantengeist und heilung; petersberg 2006; s. 66ff

die vollversion des artikels mit dem untertitel „gegenübertragung und psychosomatik“ über spezielle übertragungsfelder bei psychosomatischen erkrankungen. „blanche wittmanns busen und ärtzlicher bluthochdruck“ erscheint in der zeitschrift energie & charakter nr.35; CH-bühler; s.67-77. 

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