publikation der gekürzten version des artikels: „den himmel schauen“ von 2007 im verbandmagazin der DGAM, ausgabe august 2012.
den himmel schauen
das eigene auge spüren… nicht sehen… vielleicht dazu das auge schließen… aber nicht in gedanken abdriften… nicht bilder sehen, sondern das eigene auge spüren. den vergleich der grösse und festigkeit der eigenen augen mit den fingern auf dem geschlossenen lid ertasten oder in die schwarz-grau bis braun-orangene farbe hinter dem geschlossenen augenlid eintauchen… und darin weicher werden… so wandelt sich die farbige oberfläche vielleicht zu einem changieren von farben, die ineinander fliessen… nicht denken… nicht visualisieren*, sondern bei der blossen wahrnehmung der farbe bleiben und dann entdecken, dass sich eine räumliche tiefe entwickelt: sei es, dass die farben blasser oder dunkler werden, oder sich der herzschlag verändert** und bei diesen empfindungen verweilen***. es mag sein, dass es erscheint, als würde sich die dunkelheit hinter dem augenlid plötzlich drastisch vertiefen**** oder es erscheint so, als würde vor den augen ein weicher, weiter raum entstehen. bei manchen menschen entsteht daraus ein empfinden von weichheit der hornhaut des auges, als könnten sie durch das gewebe atmen. erstaunlicherweise lösen diese empfindungen von tiefe oder dunkelheit gleichermassen eine entspannung aus und angst davor, etwas wesentliches an struktur zu verlieren. doch bei einiger übung erweitern sich unsere visuellen fähigkeiten in diese neuen erfahrungsbereiche hinein und wir entspannen uns mehr und mehr.
wir befinden uns auf einer zwanzig meter langen segelyacht auf der überfahrt von kos nach kreta und auf dem meer ergibt sich eine weitere form des schauens: durch die weite des blickes bis zum horizont, verbunden mit den schaukelnden bewegungen des schiffes scheint sich etwas sehr tief in unserem schauen zu verändern. so ist der blick weniger auf ein objekt gerichtet. er wandert in der weite umher und nachdem der wunsch etwas festes anzusehen sich gelöst hat, nehmen wir mehr wahr..oder mit anderen worten: nehmen wir ‚meer‘ wahr: wir denken nicht mehr an das meer oder über das meer nach, sondern wir versinken ‚mehr und meer‘ in unseren sinnlichen wahrnehmungen: das auge folgt den andauernden sich verändernden wogen des wassers, gleitet über die wasseroberfläche und tastet das ewig sich wandelnde element ab. wir ’schauen‘ mal mit einem wandernden und gleitenden auge und mal mehr mit ruhigem blick, wobei dann das wasser vor den augen scheinbar fliessend werden kann. und dies vor allem wenn wir ‚achtern‘ sitzen und schauend der spur des bootes im wasser hinterher sehen.
weswegen blau-sein gleich entspannt-sein bedeutet
goethe*****beschreibt in seiner farbenlehre, dass das blau ‚uns nach sich hinzieht‘. wie ein sehnen. weswegen vermutlich im bereich der islamischen mystik mit dem blau stets seelische qualitäten wie das sehnen nach gotteserkenntnis verbunden worden sind*6. also blau. wenn wir eine brille mit blauen prismen-gläsern aufsetzen*7, bewirkt dies eine entspannung, eine verringerung von herzfrequenz und blutdruck und eine entkrampfung der skelettmuskeln. auch das sprichwort ‚einen tag blau machen‘ steht für solche form von entspannung. manche sind umgeben von dieser farbe auf unserer überfahrt einfach in einen leichten schlaf gefallen; das vor allem dann, wenn die entspannte achtsamkeit, also das wahrnehmen ohne auf ein objekt konzentriert zu sein noch gänzlich ungewohnt war. andere sind in einen zustand entspannter, intuitiver schau der welt- und selbsterfahrung geglitten, wie das sonst nur bei ausgedehnten meditationsübungen der fall ist.
ansonsten erscheinen brillen bei der im folgenden beschriebenen praxis eher hinderlich. das liegt wahrscheinlich an der optometrischen notwendigkeit, bei der brillenglasherstellung lediglich einen punkt in der glasmitte als den ort des schärfsten sehens zu erschaffen. diese focussierung verhindert die erweiterung des sehens ebenso, wie die physikalische realität des brillenglases zwischen auge und welt den prozess des sehen-fühlens zu erschweren scheint.
aus der metereologie*8 wissen wir, dass die blaue farbe des himmels nur bis in höhen, in denen heute langstreckenflugzeuge verkehren sichtbar ist. in den obersten blauen himmelsbereichen ist die dämmerung nicht mehr zu sehen und es entsteht der eindruck, die sonne würde ewig scheinen. im glauben der sibirischen bewohnerInnen des altai*9 formen sich in diesem ‚blauen, reinen himmel, ‚kök-ajas tengeri‘ genannt, aus den umfassenden kosmischen kräften die verschiedenen seelen der menschen. interessanter weise belegt dieser volksglaube bereits acht verschiedene atmosphärische schichten. und das lange bevor die metereologie mit hilfe von freiballons und später der luftfahrt das system der heute gültigen sieben verschiedenen schichten der atmosphäre entwickelt hat. können wir also möglicherweise diese verschiedenen himmelsbereiche auch spürend erkennen?
wer kann unendlichkeit fühlen?
goethe meinte in seiner ‚witterungslehre’*10, dass menschen mit ‚kränklicher natur‘ oder ‚höherer bildung‘ zu dieser sichtweise des himmels nicht in der lage seien. der amerikanische wissenschaftler deMeo, der sich in den achtziger jahren mit der künstlichen erzeugung von regen befasst hat, beschrieb etwas ausführlicher, welche persönlichen fähigkeiten den interessierten zu einem fühlenden forscher des himmels machen: z.b. ‚tiefe, volle atmung, emotionale ausdrucksfähigkeit, spontaner respekt vor der natur, unterscheidungsfähigkeit zwischen atmosphärischer stagnation und erregung.’*11 reinhold messner dagegen beschreibt diese wahrnehmung als allgemein menschliche möglichkeit: ‚der raum um uns ist überall unendlich, nur werden wir uns dessen nicht allerorten bewusst. ein klarer sternenhimmel über einem freilager im gebirge, oder der blick von einem alpengipfel in die runde, der ferne horizont auf dem tibetischen hochland genügen, um diese tiefe des raumes zu erfahren.’*12 nur eben, dass wir uns auf dem meer befinden.
wir erinnern uns an das weiter oben ’schauen‘ genannte fühlen der räumlichen weite mit geschlossenen augen und wenden dieselbe wahrnehmung jetzt beim blick in den himmel an. wir schauen also in dieses weite blau und fühlen dabei in den raum hinein. wir schauen mit dem sonnenlicht und nicht ihm entgegen, so dass wir unsere augen weit und weich werden lassen können. und wir schauen solange, bis wir die ebenfalls weiter oben beschriebenen veränderungen unseres atems und unseres herzschlages bei uns spüren können. manche, die sich auf dem gebiet des ‚himmel schauens‘ noch unerfahren fühlen, werden eine starke müdigkeit empfinden oder eine art inneren widerstand gegen dieses betrachten des sogenannten ‚blauen gegenstandslosen‘. glauben wir den altaiern (vgl.*9), so schauen wir unmittelbar in den bereich der entstehung unserer seelen hinein. aber wir wollen uns hier nicht mit vorstellungen oder phantasien verwirren. wir bleiben beim blossen betrachten der blauen weite. es wird vielleicht dauern, bis sich ein gewisses empfinden für die räumliche tiefe des himmels einstellt. wie gesagt, es geht hier nicht um das wissen der atmosphärischen schichtstruktur, wir wir es aus der aktuellen klimadiskussion in den medien vielleicht kennen gelernt haben, sondern um die unmittelbare erfahrung der weite.
wenn chinesen staunen, anstatt zu fotografieren
mit einiger übung können wir schliesslich auch entspannt bleiben, wenn diese weite sich einstellt und erfahren dann unterschiede in der dichte, der beweglichkeit oder der elastizität der atmosphäre. die alten chinesen empfahlen uns bei solchen betrachtungen ‚eine qualität von erstaunen‘ aufrecht zu erhalten. übrigens meinen sie noch heute, dass diese fähigkeit nur jenen menschen möglich sei, deren nieren-energie gut ausgeglichen ist.*13 menschen mit schwacher oder gestauter nieren-energie würden in angesicht dieser weite ’stumpf und betrüblich‘ werden.
wir ’schauen‘ also in die tiefe dieses himmels und erleben, wie unser atem sich erhebt und ausweitet. gehen wir im weiteren davon aus, dass wir bereits einige erfahrung mit dem entspannten, weichen sehen haben. wir ’schauen-fühlen‘ also in diese räumliche weite hinein und plötzlich empfinden wir die stimmung des himmelsbereiches über uns: da mag es eine ‚traurige leere‘ wahrzunehmen geben, oder einen ‚drückenden stau‘, ähnlich wie ein ‚ärger in der luft‘. da mag es eine ‚heitere leichte helligkeit‘ geben, die uns lächeln lässt oder eine ‚tiefe gelassenheit‘, die uns deutlicher mit unserem leib oder der erde unter unseren füssen verbindet. auf diese weise werden wir lernen, mit einer einfachen betrachtung des himmels eine rückmeldung über die atmosphäre des tages oder ortes an dem wir uns befinden, zu erhalten.
doch was sehen wir dabei auf dem meer? während einer spirituellen reise auf der mehr als zwanzig-stündigen überfahrt nach kreta, nachdem wir stunden in dem umfassenden blau schaukelnd dahin gedämmert sind und uns zu einer ’schamanischen reise‘ zusammen finden:
’nach ein paar gleichförmigen schlägen der trommel treten die bekannten veränderungen des bewusstseins ein… eine innere bilderwelt entfaltet sich als reichtum persönlichen erlebens und ich sehe alle mitreisenden wie in einem gemeinsamen raum sitzen. in der mitte des raumes erscheint die silouhette einer mächtigen statue, die mich an den heilgott asklepios erinnert*14. seine tempel zu besuchen, ist ein erklärtes ziel unserer reise. plötzlich macht der ganze raum einen ruck nach oben und ich empfinde uns wie ein raumschiff, das immer höher steigt. noch irritiert von den unerwarteten sensationen schlage ich, soweit mir das möglich ist, weiter die trommel, während ich sehe, wie der heilgott zu einzelnen reiseteilnehmerInnen tritt und heilungen geschehen. während dessen steigt der gemeinsame raum immer weiter auf, durch die schichten des himmels, bis mir deutlich wird, dass er in richtung eines bestimmten sternes schwebt. die silhouette verbindet nun, quasi mit der kraft ihres erhobenen zeigefingers die sternenqualität mit dem gemeinsamen traumraum und der gemeinsame traumraum verdichtet sich enorm. es wirkt auf mich, als würde ein dichter nieselregen herunterfallen, der alle anwesenden benetzt. völlig gebannt versuche ich noch immer in ruhe die trommel weiter zu schlagen…schließlich bin ich der reiseleiter, hier sogar im doppelten sinne, der reise zu den tempelplätzen und der inneren, schamanischen reise, als asklepios direkt vor meine augen tritt und mir für meine heilung rät:’sieh die göttliche freude!‘
erschüttert von der klarheit und viglianz der empfangenen inneren bilder tauche ich aus der traumwelt wieder auf, schaue das blau und nehme mit erstaunen und dankbarkeit die heilungsgeschichten der mitreisenden zur kenntnis.
geschrieben wenige tage nach der rückkehr ende mai 2007
verwendete literatur
* diese art ‚wahrnehmen‘ wird in der wahrnehmungspsychologischen und religiös orientierten literatur gleichermaßen wiederkehrend betont. hier beziehe ich mich auf w. reich, zit. in: arnim bechmann; über wilhelm reichs OROP-wüste; frankfurt/m 1995. er schreibt:
‚die subjektive sinnliche und emotionale wahrnehmungsfähigkeit des beobachters (kann) befriedigende ergebnisse dabei nur erzielen, wenn die zu beobachtenden phänomene sehr einfach oder sehr grob sinnlich erfassbar sind. je differenzierter und subtiler wahrgenommen werden soll, umso mehr muss der beobachter daran arbeiten, dass sein ‚inneres‘ zum schweigen kommt, so dass er ganz ‚wahrnehmung‘ wird und sich vollständig auf das beobachtete konzentriert.‘ (s.54)
** der sogenannte cardio-ocular reflex: ein evolutionsgeschicht-liches relikt aus der zeit, als wir fische waren. damals wurde unsere herzaktivität von dem (wasser-)druck auf die augen gesteuert
*** wie in dem über 4000 jahre alten text aus dem vigyan bheirav tantra; sure: 18
**** über die entwicklung dieses ’natürliches zhine‘ genannten zustandes schreibt tenzin wangyal rinpoche in seinem buch über ‚tibetische meditationen in schlaf und traum‘; münchen 2001;s.106
*****zu goethes farbenlehre: aus dem internet
*6 klausbernd vollmer; handbuch der traumsymbole; krummwisch 2003;s.53
*7 zum ansehen unter www.light-glasses.de oder www.energiebrille.de
*8 günther wachsmut; erde und mensch; ch-dornach 1980; anhang: tafel I
*9 n.a.shodojev;alte weisheitslehren aus dem sibirischen altai;books on demand; norderstedt 2006; s.70f
*10 die differenz fühlen; zu goethes witterungslehre; internet: www.steinerschule-bern.ch
*11 james deMeo; in: emotion heft 9 frankfurt/m 1989
*12 reinhold messner; berge; münchen 2002; s.76
*13 achim eckert; das heilende tao; freiburg i.br.1989;s.74
*14 eine solche hatte ich bei den reisevorbereitungen in dem kleinen büchlein von arn strohmeyer; lentas – ein dorf am libyschen meer; lilienthal 2000; s.17, gesehen.