symbol_publikationen

versunken im klang

überarbeitete version des artikels „versunken im klang“ aus der serie „schlangenkräfte in der ägeis“ von 2007 erschient im verbandmagazin der DGAM, ausgabe 20; januar 2015.
Bild von Pexels auf Pixabay

© Bernhard Schlage

wie man beim zuhören in parallelen wirklichkeiten versinken kann – horchender bericht über eine traumreise – bzw. eine reise zum träumen – mit dem segelboot auf dem meer des unbewussten

etwas gluckert…

…es plätschert und murmelt leise. etwas anderes summt. manche würden darin einen gesang hören und andere ein heulen. wer lange auf dem meer unterwegs ist, könnte vielleicht auch ein singen oder klagen darin hören. je nach verfassung des hörenden.

hier draußen auf see, wo die ohren nicht mehr auf das plötzliche knallen, lärmen oder dröhnen einer städtischen geräuschkulisse gefasst sein müssen, entspannt sich das hören. der hörraum weitet sich. wie zwei große hörmuscheln öffnet sich ‚etwas‘ um meine ohren und lauscht in einen kilometerweiten raum hinein. lauscht nicht nur räumlich, auch in dimensionen ausgreifend, schlürft sich in den weiten meeresraum hinaus, dort wo es singt und klingt und leiert und murmelt in den lüften. der seins-forscher martin heidegger nannte diese hörerfahrungen: ‚horchsam‘ werden*. sie entstehen von alleine, diese töne, auch seeleute sprechen von ihnen… kein klagen, jammern, jauchzen, tirilieren, dass in der windlosen weite des ozeans nicht hörbar wäre. ‚etwas‘ hallt und kieckst und jault und grollt in diesen weiten. wir werden all das

im lärm des alltags wieder untergehen hören. manchen wird es zum pfeifen und sie mag ein schnaufen hören, oder gar ein entgrenztes rülpsen und röhren… man denkt ganz unwillkürlich an die sirenen, vor denen homers odysseus seinen bootsleuten die ohren verschliessen liess, damit sie nicht vom kurs beim rudern abkamen.** diese klänge sind jedoch kein fester ort, keine insel, die zu vermeiden wäre. es sind wir selbst, die hörenden, die all das erschaffen, erklingen und durch unser hören rieseln lassen. derweil das wasser gurgelnd, glucksend und flüsternd am boot längsstreicht.

etwas plätschert…

…und es erwächst ein spürbarer zusammenhang zwischen plätschern und schwanken. der boden schwankt. nicht wie im erdbeben-simulator im science-center in bremen. nein, der untergrund schwankt ständig, seit tagen. eigentlich ist das meer des unbewussten umfassend beunruhigend. andauernd. manche kämpfen deshalb gegen das unbewusste, oder wollen eine fackel des lichts hineintragen. andere machen nachtfahrten der seele nach verlust und trauer und nach schicksalsschlag oder schicksalsglück tauchen wir in jenes umfassend unfassbare ein.

etwas gurgelt…

…draußen an der bootswand entlang. rollend schlingert das boot auf den wellen. mal fällt der bootskörper sinkend in ein wellental, dann wird er wieder hoch emporgehoben. schmatzend löst sich der schiffsrumpf von der wasseroberfläche, um gleich darauf klatschend wieder auf ihr aufzuschlagen. zischend schneidet das bug sich seinen weg durchs wasser und schäumend ziehen die abertausend luftblasen am boot entlang um sich gluckernd in seinem fahrwasser zu vereinen. es knarzen die wandten des mastes im holz der schiffsverkleidung und pfeifend weht der wind um die reling. hörereignissen horchend liege ich entspannt im bauch des schiffes auf einer segelreise durch die ägeis, wartend wähle ich worte die den neuen klängen sprachlich entsprechen könnten. sinke offenen ohres ein in klänge, die ober- und untertöne unsichtbarer welten sind.

etwas zischt…

…es muss die gischt draußen auf den wellenkämmen sein und pitschend fallen tropfen auf deck. klackend der tampen der vorschot und irgendwo im küchenregal schaben die tassen auf dem holzeinlegeboden entlang, klocken bei den bewegungen des bootes dumpf aneinander, so dass ich beständig einen knacks erwarte. irgendetwas belangloses dengelt abgestellt im abwaschbecken, während mein hören sich den klängen in meinem leib zuwendet. ein feines ziehen der atemluft in meinen nasenflügeln. durch die nase strömt kosmische energie mit dem atem in meinen körper. ich spüre die kühle dieser qualität an meinem gaumen entlangstreichen. langsam öffnet sich mein geist dabei und scheint an volumen zuzunehmen. so werde ich es später als übungsanleitung für die yogische pranayama-praxis lesen.*** etwas fiept zärtlich, während der atem einströmt, weitet sich und raschelt leise an dem stoff des hemdes, das ich trage. gluckernd rührt und regt sich etwas in meinem bauch und direkt am ohr ein rauschen. etwas schallt in der ohrmuschel und wenn ich verweile, höre ich auch ein lispeln oder läuten darin. unschwer jene sensationen zu einem kollern oder durchdringenden piepen zu steigern. vom ‚tinitus‘ allein unterscheidet mich, dass wenn mein horchsam-sein woanders hin sich wendet, dann auch der ton, die klänge sich verwandeln.

etwas spricht in uns…

…einflüsterungen, das gros der richtenden, wertenden, verführenden stimmen in mir sprechen. hörend entsteht eine frage: wie eigentlich höre ich diese stimmen? säße ich jemand gegenüber, könnte ich hören, was zu mir gesprochen wird und doch wird mein verstehen dabei jedes mal aufs neue herausgefordert: verstehe ich, was diese dort zu mir sagt? begreife ich auch, was sie mit dem gesagten meint, oder höre ich wieder einmal nur, was jener chor der stimmen in mir kommentierend einwirft? wie eine meute kläffender hunde auf fuchsjagd stürzt sich der innere chor der disharmonien auf jedes hereinkommende wort und erfindet gerne dinge, die nie gemeint waren. jedoch solange sie mir gegenübersitzt, bleibt mir die möglichkeit sie anzusprechen, nachzufragen, was sie wohl und wie sie etwas gemeint haben mag.

mit meinen inneren stimmen ist es ganz anders. ausgeliefert bin ich ihnen, ohne die möglichkeit nachzufragen repetieren sie, was immer schon gesagt wurde. gedankenlos zitieren sie unpassende redewendungen und sprichwörter, treiben mich dazu, dinge zu tun und frage ich nach, wird selbst die frage von der meute überfallen und zerfleischt. mit welchem ohr hören wir diesen ganzen stimmenwirrwarr und was geschähe uns, wenn er verstummte? haben taube menschen auch diesen innen-ohr-chor? oliver sacks erzählt die geschichte eines tauben frau, der bewegungen in innere geräusche umzusetzen gelernt hat.*4 also ist es bei ihnen auch nicht still!? selbst wenn es einmal ruhig sein könnte, dort oben in dem gedanken-chor, würden wir es aushalten!? würde nicht sogleich die besorgte frage in uns emporsteigen, was nun schon wieder wäre? und natürlich gibt es diese momente, in denen wir uns plötzlich leer fühlen. im ehestreit zum beispiel, wenn wir uns eigentlich verteidigen wollen und dann in diese leere fallen. schweigend voreinander sitzen und uns partout nichts wesentliches mehr zu sagen haben.

etwas wird ganz still in uns…

…sagen jene, die sich in meditation vertiefen. bei dem umstrittenen indischen guru bhagwan shree rajneesh gab es mal eine mediationstechnik, bei der man über eine halbe stunde all diese stimmen chaotisch-gleichzeitig sprechen, lallen, schreien sollte, um danach in eine stille jenseits dieses inneren chores zu gelangen.*5 gott vater, sein sohn und der heilige geist fallen mir ein, wobei letzterer im pfingstfest auf die gläubigen niederfährt und sie ‚in zungen reden lässt‘. mir scheint, sie sprechen dann laut aus, was an innen-ohr-chor-chaos in ihnen ist und halten es für wesentliches. stimmen hören auch sogenannte medial begabte menschen und natürlich manch psychisch kranke unter uns. wir haben also offensichtlich noch ein ohr für all diese inneren klänge, wörter, töne und bedeutungen. wie kann es aber sein, dass jene gemengelage aus elektrischen aktionspotentialen entlang unserer nervenleitungen und chemischen neurotransmitterreaktionen an ihren synaptischen verbindungen sich zu klängen wandelt? zu irgendetwas hör-und möglicherweise auch noch verstehbarem wird? wenn wir unser physisches ohr an ein freigelegtes gehirn legen könnten, würden wir etwas von dem/der da drinnen hören? die pfingst-gläubigen und die medial begabten behaupten gar, sie könnten zwischen jenen tönen in uns und den stimmen die von aussen, aus den spirituellen welten kommen, unterscheiden. was für ein ohr sie haben müssen!

manche meinen eine ’sprache der organe‘ zu hören…

…mit hilfe dieser sprache soll es in der behandlung psychosomatischer erkrankungen möglich sein, die ‚botschaft der krankheit‘, also deren hinweis zur veränderung unseres lebensstils oder unserer beziehungen zu erhören. unwillkürlich stelle ich mir kleine, mausezarte ohren an meinen inneren organen vor, die ihre weiche muschel zum beispiel an die leber legen, um dort das ächzen, blubbern oder trällern abzuhören. ist psychosomatik also der ‚lauschangriff‘ der therapeuten auf unser innerstes und wäre das ebenso beunruhigend, wie jener beständig wiederholte wunsch konservativer gesellschaftlicher kreise, aus gründen der allgemeinen sicherheit, unsere telefone, emails und sonstigen elektronischen kontakte mit der umwelt abhören zu wollen!? nebenbei gefragt, wer will sich eigentlich die zeit nehmen, sich all diese alltäglichkeiten im zwischenmenschlichen kontakt noch anzuhören?

es geht noch weiter, zu jenem spezialisten einer kalifornischen universität, der die frequenzen unserer zellen erhört hat.*6 vom dumpfen murmeln, über zartes singen, bis hin zum schier nervenzerfetzenden lärm von krebszellen. und dann noch diesen klang: g. dieser ton entspricht der eigenresonanz zweier besonderer dinge (man muss diesen text danach beiseite legen, um das ganze ausmaß dieser zusammenhanges zu begreifen): der ton g entspricht sowohl dem jener aminsäureneiweisse, die unsere gene bilden, also unserer DNS, als auch der durch oktavierung hörbar gemachten frequenz eines erdentages.*7 im schöpfungsmythos der hopi-indianer heisst es dazu, dass „alle töne echos des schöpfers sind“ und es gibt eigens ein zwillingspaar, dessen aufgabe darin besteht, den klang der welt zu harmonisieren.*8

wenn wir also all diesen inneren stimmen horchen, werden sie immer mehr. wenn wir uns für etwas interessieren, fallen uns immer mehr details dazu ein… wir kennen das aus krisenzeiten, oder nachts, wenn dieser chor uns unseres schlafes beraubt.

wie stelle ich den dialog denn ab?…

…eine einfache möglichkeit ist wieder das hören. die ohren öffnen und jenseits begrifflicher einordnungen dem klang der umwelt lauschen: hier jetzt wieder dem meer. stehen wir von unserem lager im bootsbauch auf und gehen wir wieder an deck. sonne, gleich weht ein weicher wind uns um die haare, etwas rauscht um unsere ohren und schon, weil ich brillenträger bin, entsteht das leichte pfeifen des windes an den bügeln meines brillengestells. das reißen an den zügen, die klackernd im wind den mast des schiffes schlagen und dann dies‘ sehnen… diese feine tendenz in mir, ins wasser zu gehen. wir sind auf dem meer, also hinein ins meer! es spritzt und platscht und planscht um mich und jauchzt in mir… ich tauche unter:

wie anders wir uns unter wasser hören…

…ganz nah‘ erscheinen uns die klänge und unmittelbar und gleichzeitig auch ganz sphärisch um uns herum. schlecht zu orten, woher sie ihre quelle haben. es war der schuhmacher-philosoph des 16. jahrhunderts, jacob böhme,*9 der uns auf diese ‚herbe stummheit‘ aufmerksam machte, die unsere ohren unter wasser zu hören kriegen. der ton scheint unter wasser zu versinken. ich denke an die sechzig meter tiefe, die der echolot im boot mir angezeigt hatte, bevor ich ins wasser sprang. wenn ich mich in die tiefe sinken lasse, dem ton zu folgen trachte, entdecke ich auch jene geborgenheit, die mich dort unten empfängt. geborgen im wasser. geboren im wasser stimmt auch, denn in meinem verständnis ist die geborgenheit im uteralen wasser meiner mutter nichts andres, als eine verkleinerte ausgabe jenes grösseren ozeanischen wassers, in dem unsere vorfahren für millionen jahre geboren wurden. versinkend in dieser unermesslichen intimität erinnere ich mich jener filme von jaques-yves cousteau*10, die meine kindheit bereichert haben und darin besonders dem klang der ’singenden wale‘: wie ein sphärisches pfeifen, piepsen, knacken und ein deutliches ‚kantappern‘ da zu hören war. ich fühle mich gleich weggetragen und sehe plötzlich zwei delphine neben mir schwimmen. leben, ach ja, mein leben und mein atem sind da oben an die meeresoberfläche gebunden. ich tauche wieder auf.

wie laut die töne sind. wie anders die stimmen der menschen. zurück von meinem ausflug in die unterwasserwelt hier oben auf dem boot. der wind hat zugenommen und der zwischenzeit. die luft riecht angespannt und salzig natürlich auch. die augen sehen wolken aufziehen.

hans baumer schreibt, das wetter kann man hören…

…transformiert man die frequenzen der elektrischen ladungen von wolken in eine tonfolge, stimmen sie exakt mit einer c-dur tonleiter überein!*11    als der skipper nach vorne zeigt, steht dort eine wand: das meer zeigt weiße kronen, die gischt spitzt hoch und die augen sehen sie übergehen in regen-weisse wolken.

‚fliegendes wasser‘ nennen die seeleute das: und es bedeutet gefahr! eine böe schlägt krachend in die segel. ‚alle mann unter deck!‘, ‚du da, hol die vorschot ein!‘, eine stimme, die keine bedenkzeit lässt. nur anweist, fordert und verlangt. man spürt es förmlich, wie die spannung steigt.

es dröhnt und wummert…

… noch dazu. der motor wurde angeworfen, um das schiff bei dem was kommen mag auf kurs zu halten. von unten kommt ein würgendes geräusch: die ersten sitzen schon auf den toiletten; oder wohl richtiger daneben. seefahren eben… ist nicht immer lustig. mittlerweile brüllt der wind tobend in der takelage. es wettert rundherum am himmelszelt. es muss den menschen früher wie eine strafe der götter erschienen sein, wenn solche naturgewalten sich entfesselt haben. in dieser lage ist ganz unverständlich, wieso der ‚äther‘ manchen so feinstofflich erscheint, dass sie ihn nur still erfassen mögen*12. hier ist er wild und ungebremst und wühlt in dem gedärm. er reisst am boot mit seinen segeln. den skipper haben sie in lebensrettungsweste ans boot gekettet, damit er stehend das ruder halten kann. der sturm, er dauert viele stunden noch, wer das erlebt hat, der kehrt als anderer wieder.

doch dann, der morgen. das frühe hören nach der nacht. etwas fehlt. er ist fort. ein ruhiges tuckern des motors. jemand schnarcht im hintergrund. der sturm ist vorbei. lieblich kräuselt sich das wasser unter dem seesalzstarrenden bug. der wind, der bleibt, ist nur vom fahren selbst. verträumt schau ich aufs weite meer. ein neuer tag. ein neuer klang und neue (t)räume, in die der ton mich trägt.

literaturliste

  • * heidegger, martin; vorträge und aufsätze; pfullingen 1978; fragment 50
  • ** homer; hrsg. von wolgang schadewaldt; die odyssee; reinbeck 2004; s.213ff
  • ***pranayama; b.k.s.iyengar; aus: ijengar-yoga-deutschland.de am 21.9.07
  • *4 sacks, oliver; stumme stimmen; reinbeck 1992; s.24ff
  • *5 osho; das orangene buch; köln 1989; s.222f
  • *6 gimzewski, james; sonocytology; aus: swr.de. vom 20.7.07
  • *7 berendt, joachim-ernst; das dritte ohr; reinbeck 1985, s.169
  • *8 waters, frank; das buch der hopi; münchen 2000, s.27*12 ayurveda; katja weilepp; aus: enyana.com am 21.9.07
  • *9 böhme, jacob; über den äther-klang; aus: anthroposophie.net
  • *10 cousteau, j.-y.; biographie und bibliographie; aus wikipedia; vom 4.10.07
  • * 11 baumer, hans; sferics – die entdeckung der wetterstrahlung; reinbeck 1987; s.286f
Nach oben scrollen
WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner