erschienen in: energie und charakter VOL 33, jg 40, s.93-104, bühler (CH) 2009. die folgende pdf-datei enthält das autorenmanuskript (siehe auch 03/2009)
es gibt nur einen tempel in dieser welt
und das ist der menschliche körper
nichts ist heiliger als diese hohe gestalt.
novalis
als ausgangspunkt für die entwicklung der gedanken in diesem artikel stelle ich ein persönliches erlebnis aus meiner kindheit vor: ich war keine fünf jahre alt und lag nachts alleine in meinem bett, als sich seltsame, neue empfindungen in meinem körper einstellten. meine inneren bilder von einsamkeit und leere veränderten sich in szenarien, die meiner kontrolle entglitten. so ging ich beispielsweise einen weg entlang, dessen konturen sich zunehmend auflösten und der schließlich nur noch aus fließenden farben bestand. zusätzlich beschleunigte sich dieses szenario je mehr angst ich bekam, was meine angst weiter hochschaukelte und so das tempo der bewegung wiederum vergrößerte. der raum wurde weiter und größer, irgendwie unendlich und darin dann auch wieder beruhigend. wie zufällig bemerkte ich, dass meine hände riesengroß wirkten und strömende empfindungen durch meinen körper waberten. es war sehr viel ruhe in dieser entspannten weite. und doch war immer eine angst dabei, dass ich jetzt verrückt werden könnte und ich habe mich zu der zeit nicht getraut, mich jemandem mit meinen ungewöhnlichen empfindungen anzuvertrauen. all das hätte ich völlig vergessen, wenn ich nicht gute zehn jahre später zufällig das buch ‚momo‘ von michael ende gelesen hätte. in dieser geschichte gibt es eine ’straße‘ in der dieselben empfindungen gelten, wie in meinen kindlichen träumen: je unruhiger der geist sich in dieser straße bewegt, umso schneller wird momo von der begleitenden schildkröte darin getragen und sobald eine beruhigung bei momo eintritt, scheint sich die straße quasi aus der zeit herauszuheben. (1)
auch das erlebnis mit den vergrößerten händen fand ich bei wilhelm reich später als ausdruck früher sexueller empfindungen beschrieben (2). da ich aus einem elternhaus mit einer psychisch kranken mutter stamme, hatte ich die neigung, außergewöhnliche körperliche empfindungen rasch mit dem auge des möglichen-krankhaften zu sehen und war darum bemüht, mir nichts anmerken zu lassen. dieses im familienkontext verständliche verhalten verhinderte aber auch jahrelang, dass ich mir über die gesellschaftliche verbreitung und normalität dieser empfindungen durch die fehlende rückmeldung von freundInnen klar werden konnte. die beiden benannten texte machten mir die verbreitung dieser empfindungen im menschlichen erfahrungskontext deutlich und ermöglichten daher ein erinnern und einen bewussteren umgang. für diesen text möchte ich zunächst eine unschärfe in den begriffen beibehalten und von der bedeutung dieser phänomene in der körperpsychotherapeutischen praxis schreiben. verwendet werden im diskurs derzeit begriffe wie ‚körperbild, körperschema, energiekörper, astralkörper oder traumkörper‘ u.a.m. auch unsere klientInnen verwenden diese begriffe zur beschreibung ihrer erlebnisse zunächst intuitiv, bevor sie ein detaillierteres verständnis ihrer erfahrungen erlangen.
Fallbeschreibungen
ich beginne mit der kurzen beschreibung von fallbeispielen, in denen eine körperbildstörung angenommen werden kann:
* da sind natürlich zuallererst die bekannten störungen des körperbildes bei essgestörten. und zwar sowohl bei anorektischen und bulimischen klientInnen, die sich i.d.r. als außergewöhnlich dick wahrnehmen, als auch umgekehrt bei einigen adipösen klientInnen, die ihren körper innerlich als mager und zierlich wahrnehmen. (3/4)
* dann sind hier jene störungen des körperbildes zu erwähnen, die sich aus einer störung der reizleitung des nervensystems ergeben. wie beispiels-weise bei der sensomotorischen neuropathie oder bei erkrankungen der myelinschicht der nerven, wenn also die konservative, krankengymnastische behandlung keinen erfolg mehr zeigt, weil die nervliche verbindung vom erkrankten körperteil zum bewusstsein der/des klientIn gestört ist. (5)
* mir fallen jene klientInnen ein, die bei befragen zu ihrem körperlichen befinden oder bei körperlichen übungen ihren körper gewohnheitsmäßig immer vor sich selbst stehend oder über sich selbst schwebend beschreiben und zu einem assoziierten empfinden, also zu einer wahrnehmung ihres körpers in den grenzen ihrer haut, nicht in der lage sind.
* dann gibt es aus der traumatherapie eine reihe von diagnostischen hinweisen auf ‚dissoziationen‘ des körperbildes: d.h. betroffene erleben sich stressbedingt außerhalb, neben oder hinter ihrem körper stehend, oder die krankheitsbedingten dissoziativen störungen (coenästhesien oder wahnhafte veränderungen des organerlebens…) bei menschen, die unter schizophrenen psychosen leiden.
* zu benennen wären die so genannten ’neglect‘-störungen bei schlaganfall-patientInnen, bei denen eine körperhälfte aus dem körperbild ausgefallen ist (als würde es diesen körperteil nicht geben) und die sich im extremfall sogar so verhalten, als würden diese körperteile nicht mehr zu ihrem körper gehören. (6/7)
* bei etwa einem fünftel unserer klientInnen finden wir das körperbild in einzelnen fragmenten. früher nannten wir diese störungen die ’schizoiden charaktertypen‘ (8), während wir sie heute eher zu den so genannten frühgestörten klientInnen zählen, deren ich-entwicklung so früh verletzt wurde, dass es nicht zur vollständigen entwicklung eines körperbildes kommen konnte.
* menschen mit nahtod-erlebnissen berichten ebenfalls von veränderungen ihrer wahrnehmung und ihres körperbildes, wie beispielsweise peter nádas. (9)
* michael murphy hat in seinem buch ‚quantenmensch‘ gut belegte beispiele außergewöhnlicher körperbildveränderungen von leistungssportlern dokumentiert. (10) u.a. wurde dabei durch visualisierungsübungen die erscheinung der körperlichen form verändert; oder die raumwahrnehmung des eigenen körpers beim kampfsport bis in kosmische dimensionen ausgedehnt.
* aus der schamanischen arbeit mit träumen wissen wir, dass es menschen gibt, die ihren eigenen körper in träumen realisieren und dabei mit diesem körper auch erfahrungen machen, die in der allgemein verbindlichen wirklichkeit nicht möglich erscheinen: fliegen, von wilden tieren gefressen werden ohne dabei zu sterben (beispiele in: patricia garfield, 11, s. 166 und carlos castaneda, 12, s. 35f und 150f)
* als ich bei einer segelreise das erste mal am ruder stand, machte ich eine weitere erfahrung der wirksamkeit von ‚körperbild-veränderung‘: ähnlich einem autofahrer, der ein ‚gefühl für die außenmaße/bewegung‘ seines pkw erlernt, üben skipper, ein gefühl für die bewegungen des schiffsrumpfes zu entwickeln, um mit dem steuer einfacher umgehen zu können: auf diese weise müssen sie nicht jede geringe kursabweichung mit kompass ausgleichen, wenn das schiff beispielsweise einen wellenkamm quert, bemerken aber grundsätzliche abweichungen vom kurs. sie erweitern also ihr ‚körperbild‘ um die größe des schiffsrumpfes nach unten.
* in der cranio-sacral-movement-therapy berichten behandlerInnen von einer verbesserung ihrer behandlungserfolge, je detaillierter sie sich die verbindungen der schädelknochen vorzustellen in der lage sind. …das in behandlungsbereichen, in denen die bewegungsmöglichkeiten von knochen unter 1mm liegen!
* und schließlich erwähne ich hier vilaynur ramachandrans experiment ‚pinocchios nase‘ zur plastizität unseres körperbildes: „ihr eigener körper ist ein phantom, das ihr gehirn aus rein praktischen gründen vorübergehend konstruiert hat. ich weiß, es klingt unglaublich, daher werde ich ihnen beweisen, wie formbar ihr körperbild ist und in welch kurzer zeit sie es tiefgreifend verändern können. (…) für die erste illusion brauchen sie zwei helfer. ich nenne sie julia und mina. setzen sie sich auf einen stuhl, lassen sie sich die augen verbinden und bitten sie julia, ihnen zugewandt auf einem vor ihnen stehenden stuhl platz zu nehmen. fordern sie mina auf, sich an ihre rechte seite zu stellen, und geben sie ihr die folgende anweisung: ’nimm meine rechte hand und führe meinen zeigefinger auf julias nase. bewege meine hand rhythmisch hin und her, so dass mein zeigefinger ihre nase wiederholt berührt, und zwar in zufälligen intervallen, ähnlich einem morsecode. berühre gleichzeitig meine nase mit deiner linken hand im gleichen rhythmus und mit gleichen zeitabständen. die berührungen von meiner nase und julias nase müssen vollkommen synchron erfolgen.
mit ein bisschen glück haben sie nach dreißig oder vierzig sekunden die unheimliche illusion, dass sie ihre nase irgendwo außerhalb ihrer selbst berühren oder dass sich ihre nase verformt hat und nun einen halben meter lang ist. je zufälliger und unvorhersagbarer die berührungssequenz, desto verblüffender die illusion.“ (13)
all diese beispiele deuten darauf hin, dass wir neben jenem körper, dessen wir uns durch eine betrachtung im spiegel oder durch berührungen anderer menschen vergegenwärtigen können, noch über einen zweiten, nur unserer eigenen wahrnehmung zugänglichen, gewissermaßen ‚inneren‘ körper verfügen.
und es gibt seit hippokrates antiken fallbeschreibungen (14) hinweise darauf, dass sich unser krank- und gesund-werden zuerst in einer veränderung dieses so genannten körperbildes ausdrückt. in der gegenwärtigen literatur wird diese frage meines eindrucks nach am deutlichsten von dem schweizer physiker und jungschen lehranalytiker arnold mindell verfolgt. zum beispiel in seinem älteren werk: ‚der leib und die träume‘ 15), oder aktueller in ‚quantengeist und heilung‘ (16). auf die aussagen des seit den 90er jahren intensiv zu diesen fragen forschenden kollegen frank röhricht kommen wir weiter unten noch zu sprechen.
auch in anderen kulturen gibt es hinweise auf die existenz eines solchen körpers:
so wird beispielsweise im tibetischen qi gong von der entwicklung eines ‚regenbogenkörpers‘ gesprochen, dem fähigkeiten der vitalisierung des physischen körpers ebenso nachgesagt werden, wie uns westlichen menschen mystisch erscheinende geschichten davon, dass ein mensch mit verwirklichtem regenbogenkörper nach seinem tode außer ein paar haaren und fingernägeln keine reste seines physischen körpers mehr hinterlassen soll. (17)
in der anthroposophie gibt es übungen ‚zur erfahrung des astralleibes‘: gemeint sind hier erfahrungen des träumenden menschen, in denen er sich außerhalb seines physischen körpers befindet, diesen sogar von außen wahrnimmt und beschreiben oder sogar ihn bewegen kann: „dass das außer dem physischen leib befindliche ‚ich‘ im traume bilder des lebens ergreift, die es sonst durch den physischen leib eben in der äußeren wirklichkeit ergreift.“ (18)
haben wir über diesen ‚zweiten körper‘ (19) schon immer verfügt, oder müssen wir ihn als anthropologisch neuen evolutionären erwerb verstehen?
bemerkenswert halte ich in diesem zusammenhang den hinweis des philosophen jean gebser, dass in europa bis in das 15. jahrhundert hinein die darstellung des physischen körpers immer zweidimensional geblieben ist: in der kirchlichen ikonographie ebenso wie in der teppichwebkunst und malerei. in jenem jahrhundert kam es zu mehreren, das menschliche wahrnehmen des körpers wesentlich verändernden naturwissenschaftlichen entdeckungen: keplers entdeckungen der planetenbewegungen begründeten den wandel vom geo- zum heliozentrischen weltbild; galileo galilei machte deutlich, dass die himmelskörper und die erde keine scheiben, sondern kugeln sind und schuf damit die voraussetzungen für eine veränderte raumwahrnehmung und schließlich brach der bedeutende anatom vèsale das bis dahin in europa bestehende kirchliche tabu der öffnung des körpers: durch seine anatomischen studien erfuhren die menschen unseres kulturkreises erstmalig details über das innenleben ihres körpers. (20)
hans georg brecklinghaus schreibt in seinem werk über das körperbild des antiken ägypten (21), dass obwohl die künstlerische darstellung des menschen zu der zeit relief-artig geschah, es trotzdem bereits eine
dreidimensionale selbst- und körperwahrnehmung gegeben haben solle. er belegt dies aber nicht weiter. schipperges (22) zitiert albertus magnus aus dem 12. jahrhundert: ‚als animal perfectissimum ist der mensch modell jenes kosmos, der von oben her durchsichtig geplant, von unten aus schichtenförmig gefügt ist, von innen her gesehen so transparent, um alle geschöpfe in je verschiedenen graden am sein partizipieren zu lassen.‘ es darf bezweifelt werden, ob die sichtweise des mittelalterlichen universalgelehrten auch der erfahrungswirklichkeit der menschen jener zeit entsprochen hat.
um die wende zum 20. jahrhundert finden sich schließlich die ersten texte, die sich mit der detaillierteren beschreibung eines körperbildes befassen. bereits bonnier (23) geht dabei von einer möglichen verortung im zentralnervensystem aus. er vermutet, dass dieses körperbild teil unseres phylogenetischen erbes ist und als solches wesentlichen funktionen unserer haltung und unseres verhaltens zugrunde liegt. auch beschreibt er, dass ‚viele funktionen, die wir im normalen zustand nicht zur kenntnis nehmen, nur zutage treten, wenn sie gestört sind.‘
meine these ist, dass mit den entdeckungen des 15. jahrhunderts nicht nur die perspektive in der malerei entstanden ist (gebser spricht vom wechsel des theozentrischen zum anthropozentrischen weltbild), sondern dass sich dabei auch eine neue körperwahrnehmung der menschen entfaltete. diese körperliche innenraum-wahrnehmung ist also als eine noch recht junge menschliche fähigkeit anzusehen und muss von uns in der prä- und perinatalen phase unserer menschwerdung jeweils individuell erlernt werden. aus der bindungsforschung können wir heute entnehmen, wie verletzbar diese etablierung ist und wie weitreichend ihre störungen unser verhalten in späteren lebensjahren beeinflussen können. ich gehe dabei davon aus, dass es einen neurologisch fixierten, phylogenetisch überlieferten anteil dieses körperbildes gibt und einen anteil, der sich in unseren frühen beziehungen etabliert. bewusst werden wir uns seiner existenz aber erst durch störungen/verletzungen/unfälle des körperbildes, oder wenn wir uns besonderen künstlerischen oder sportlichen herausforderungen stellen, für deren bewältigung wir dieses körperbild erweitern müssen.
fassen wir zunächst zusammen: folgende alltägliche handlungen werden uns durch die existenz eines ‚körperbildes‘ möglich: wir können:
1. wahrnehmen, wie unser körper und seine teile angeordnet sind, wie seine/ihre ausdehnung ist und welche abweichung von bekannten körpererfahrungen bestehen, ohne dass wir dies visuell überprüfen müssen. dazu gehört, dass wir die kraft, größe und schnelligkeit unserer bewegungen einschätzen und in bezug zu objekten setzen können: ein weinglas fassen wir anders an als einen rugbyball, ohne dass wir uns vorher detaillierte überlegungen dazu machen müssen.
2. uns in raum und zeit angemessen orientieren: wo oben/unten ist, rechts/links, weil wir uns jetzt spüren können, können wir vergangenheit/zukunft bestimmen. so können wir beispielsweise mit hilfe unseres körperbildes vor dem spiegel herausfinden, in welcher der physischen repräsentationen unseres leibes wir uns aus lebenspraktischen gründen aufhalten.
3. körperliche bedürfnisse differenziert wahrnehmen und deren erfüllung durch eigene handlungen oder durch kontakt mit anderen (menschen, tieren, blumen, steinen) einschätzen. so spüren wir unseren hunger, unsere sehnsucht nach berührung oder die oberfläche eines diamanten.
4. erlebnisse durch zunehmende assoziation mit dem körper intensivieren oder durch zunehmende dissoziation (nach außen treten…) in ihrer intensität abschwächen. dadurch können wir beispielsweise unseren umgang mit schmerzen beeinflussen.
5. unseren körper bestimmte (un-)bewusste haltungen einnehmen lassen, oder neue haltungen erlernen, die dann zum automatischen handlungsrepertoire werden (wie wir aufstehen, wie wir sitzen, wie wir fahrrad fahren, wie wir gehen). das gibt uns einerseits die freiheit, unseren geist während dieser handlungen mit weiteren dingen zu beschäftigen (wo will ich hin, …), engt unser verhalten andererseits aber auch ein, wenn wir vergessen haben, wie wir eine automatisierte verhaltensweise, die uns behindert, ändern können (wenn wir unsere kopfhaltung beim lesen automatisiert haben, fällt es uns schwer herauszufinden, wie wir lesen können ohne uns zu verspannen).
6. unsere fähigkeiten auch in bloß vorgestellten situationen überprüfen/erweitern: eine handlung in gedanken solange vorwegnehmen, bis wir sie uns zutrauen (oder im fall der prüfungsangst uns damit zunehmend ängstigen…), das körpergefühl als autofahrer/skipper für das ganze fahrzeug während der benutzung ausdehnen; sportliche leistungen visuell vorwegnehmen. es scheint beispiele dafür zu geben, dass diese visualisierungen auch konkreten einfluss auf unsere körperliche erscheinung, den so genannten phänotyp, haben. (24/25)
7. unser verhalten verschiedenen realitäten anpassen: beispielsweise unseren körper im traum fliegen lassen; von traumwesen gefressen werden und noch wissen wo wir sind; mit pflanzen imaginierte dialoge führen und unseren hörsinn im inneren dialog verstehen lernen…
8. bevor unser physischer körper erkrankt, frühzeitig befindlichkeits-störungen wahrnehmen und unser verhalten entsprechend anpassen; oder bei bereits entstandener erkrankung regulierend/harmonisierend auf unseren physischen körper einwirken (wenn wir spüren, was gesund wäre, können wir im vergleich dazu günstige verhaltensweisen einnehmen…)
zusammenfassend können wir also sagen, dass es eine gut begründete annahme für die existenz eines so genannten ‚zweiten körpers‘ in unserer erfahrbaren wirklichkeit gibt. diese offenbart sich menschen in verschiedenen lebenslagen und in der geschichte wurden verschiedene namen dafür erfunden. möglicherweise hat die ursprüngliche matrix des ‚körperbildes‘ sogar eine plastizität, sich durch training und bewusstseins-veränderung dynamisch in bereiche hinein zu entwickeln, die uns westlich kultivierten menschen bislang mystisch erscheint.
wie aber ließe sich solch ein körperbild theoretisch erklären?
sichten wir dazu die bestehenden thesen aus den betreffenden forschungsgebieten:
ein teil der beschriebenen phänomene ließe sich durch veränderungen in der reizleitung oder durch eine veränderung der repräsentation im somatosensorischen homunkulus (26) erklären: so der ausfall von körperbildaspekten durch erkrankung der afferenten leitungsbahnen oder der repräsentationsfelder im kortex, etwa beim neglect-syndrom.
das experiment mit ‚pinocchios nase‘ von ramachandran macht deutlich, dass unser gehirn realitäten nach wahrscheinlichkeiten, also nach gewohnheiten organisiert und zwar auch dann, wenn das ergebnis dieser repräsentation ausgesprochen skurril erscheint. diese führt uns zu wahrnehmungspsychologischen aspekten der körperbild-erfahrung. also auch wie detailliert, mit welcher räumlichen tiefe oder in welcher konsistenz wir unseren körper erfahren steht in direktem zusammenhang mit den erfahrungen, die wir mit unserem leib machen oder in unserem leben gemacht haben. ‚pinocchios‘ dissoziation und die stressbedingten dissoziationen von traumapatientInnen könnten forschern hinweise auf jenes gehirnareal geben, das als ursächlich für körperbildstörungen anzunehmen ist.
Singer (27) erklärt neurobiologische zusammenhänge, die uns erkennen lassen, auf welche weisen sich das gehirn mit sich selbst beschäftigt und wie dabei ‚durch iteration kognitiver operationen und reflexive anwendung auf sich selbst metarepräsentationen eigener zustände‘ entstehen können. er erforscht allerdings nicht nur das menschliche körperbild, sondern fragt grundsätzlich nach einer erklärung der existenz unseres selbst-bewusstseins.
aus der säuglingsforschung wissen wir überdies, was es zur entwicklung eines vollständigen körperbildes an berührungs- und bewegungsempfindungen bedarf und durch welche interventionen dieses erleben in der neurologischen frühentwicklungsförderung erweitert werden kann. (28)
wie aber lassen sich die ‚außerkörperlichen‘ aspekte des körperbildes verstehen?
wir müssen uns im rahmen dieses artikels zunächst von den ungenauigkeiten esoterischer betrachtung dieser erfahrungen befreien und postulieren daher, dass alle diesbezüglichen erfahrungen auf der veränderung von eingehenden sinnesreizen beruhen müssen. hans-peter dürr beschreibt in seinem buch ‚traumzeit‘ (29), wie solche phänomene durch betäubend auf die hautrezeptoren wirkende stoffe eindrücklich möglich werden. auch wissen wir, dass die sensomotorische oder kinästhetische wahrnehmung bei jenen klientInnen, die von dissoziationen betroffen sind, herabgesetzt (worden) ist.
müssen wir also für außerkörperliche erlebnisse von einer (bewusst herbeigeführten oder krankheitsbedingten) störung des sensomotorischen feedbacks der hautreize oder des gravitations-empfindens im gleich-gewichtsorgan des menschen ausgehen!?
eine möglichkeit, hier zu klareren aussagen zu gelangen, wäre eine untersuchung zu möglichen körperbildstörungen bei astronauten, die über längere zeit im zustand der schwerelosigkeit gelebt haben und unter genau jenem mangel an sensorischem feedback leiden, den wir als basis für außerkörperliche erfahrungen annehmen.
oder wir wenden uns den gut dokumentierten neuroimmunologischen wirkungen von visualisierungsübungen in der onkologischen behandlung und der allergieforschung zu: könnten wir aus der fähigkeit unseres bewusstseins, zellveränderungen zu bewirken, schließen, dass es möglich wäre, gemachte propriozeptive und kinästhetische sinneserfahrungen quasi von ihrem sensorischen input abzulösen, sie dann in andere, z.b. vorgestellte oder geträumte realität zu übertragen und auf diese weise zu außerkörperlichen körperbildempfindungen wie jenen des fliegens zu gelangen!? dann wären körperbildstörungen bloße kreative imaginationen unseres geistes.
wäre es dann auch möglich, unter zuhilfenahme neuerer raum-zeit-modelle, wie beispielsweise stephen hawkings ‚wurmlochtheorie‘ (30) oder brian greens ‚teleportations‘ modell (31) die ‚regenbogenkörper‘-phänomene der tibeter zu erklären!?
folgen wir diesen spekulativen annahmen, könnten wir nachempfinden, warum menschen mit dem so genannten ‚body integrity disorder'(BIID)-syndrom manchmal meinen, jene von ihnen als fremd oder unbelebt empfundene extremität ihres eigenen leibes würde aus einem ‚früheren leben‘ stammen. erstaunlich für den praktiker sind jene seltenen forschungen, die übereinstimmend zu dem ergebnis kommen, dass diese menschen nach einer gelungenen amputation zu einem ganz normalen leben zurückfinden. (32)
wollen wir nun die vielfalt der körperpsychotherapeutischen anwendungs-möglichkeiten bei körperbildstörungen beschreiben, ist zunächst eine begriffliche differenzierung nötig. dabei folge ich den grundzügen der von frank röhricht und der ‚dresdner werkstatt körperbild‘ entwickelten differenzierung (33):
röhricht et.al. unterscheiden dabei in methoden,
* die auf die etablierung des ‚körperschemas‘ zielen, (wahrnehmungspsychologische verfahren),
* die auf das wissen und die phantasie über unseren körper ausgerichtet sind und die das ‚körper-selbst‘ als verbunden bzw. unterschieden von unseren beziehungen erlebbar machen und eine differenzierung in innen-/außenwahrnehmung erlauben,
* die unsere gefühle im umgang mit unserem körper oder unsere (un)zufriedenheit mit seinem bestehen zum thema haben – die so genannte körper-kathexis – , und schließlich methoden,
* die sich mit unserem ‚körperausdruck‘ (mimik, gestik, haltung und bewegungsmuster) befassen.
dabei wird bereits unterschieden, welche verfahren bei welchen möglichen klinischen störungsbildern als relevant zu gelten haben.
so gelten beispielsweise die wahrnehmungspsychologischen verfahren als basismethoden zur therapie von psychose-begleitenden körperhalluzi-nationen, während den auf das ‚körper-selbst‘ bezogenen verfahren vorrangige bedeutung bei der behandlung von traumafolgen und den so genannten funktionellen störungen gegeben wird. auch eine entsprechende zuordnung von testverfahren zur diagnostik der bestehenden störungen und ihrer dynamischen verläufe in der therapie wird von den autoren angezeigt.
betrachten wir nun das arbeitsfeld von körperpsychotherapeutischen verfahren, wie es in dem gegenwärtigen standardwerk zur methodenvielfalt dargestellt wird (34), so entdecken wir ein weites einsatzfeld von verfahren, die sich auf eine beeinflussung des ‚körperbildes‘ in seinen verschiedenen erscheinungsformen begründen. wir finden dabei neo-reichianische therapieformen wie etwa die orgonmedizin oder vegeto-therapie, tanztherapie, katathymes bilderleben, strukturelle therapie-verfahren wie rolfing oder posturale integration, psychosomatische therapie und arbeit mit körperbildstörungen bei essgestörten und schizophrenie-erkrankten patientInnen, mit der ‚verkörperung des unbewussten‘ arbeitende analytische verfahren, die prä- und perinatale psychologie und die neurologische entwicklungsförderung, sensomotorische verarbeitung posttraumatischer störungsbilder, atemtherapeutische verfahren, bewegungsschulung und umsetzung neurophysiologischer erkenntnisse im pädagogischen lernfeld, einsatz imaginativer verfahren im (leistungs-)sport, bis hin zu verfahren aus der transpersonalen psychologie wie z.b. die trancetechniken von felicitas goodman.
auch wenn dies keine vollständige aufzählung aller in diesem zusammenhang zu erwähnenden arbeitsverfahren sein kann, so wird doch deutlich, in wie vielen berufsfeldern körperbild-spezifische techniken implizit oder sogar explizit anwendung finden und wie bedeutsam eine umfassende entwicklung definierter therapeutischer werkzeuge zu einer größeren wirksamkeit der verfahren beitragen kann.
resümee
der biblische sündenfall ist geschehen. wir haben vom baum der erkenntnis gegessen. ken wilber (35) würde wohl schreiben, dass wir das bloße funktionieren des regel-rollen-selbst verlassen haben und uns um erkenntnis des eigenen, gewissensmäßigen in uns bemühen. und dabei haben wir die ursprüngliche körper-seele-geist-einheit verlassen. wir haben uns entfremdet. der leib ist nicht mehr länger ‚grundlage unserer wahr-nehmung‘ (36) und dient nicht mehr als ’sensibles instrument unserer erkenntnis‘, wie es die sensualisten des 17. jahrhunderts postulierten (37) und goethe es noch liebte. der körper ist längst objekt unseres willens geworden: er unterliegt vorstellungen von schönheit, wie in den neuen exzessiven körperkulten um bodybuilding, tatooing oder piercing (38) und er soll zum idealbild gestaltet werden. ihm wird natürliches altern abgesprochen und mit anti-aging-konzepten aller art ‚zu leibe‘ gerückt. es werden invitro-embryonen angelegt und nach genetischen erkrankungen untersucht, bevor sie ausgetragen werden und die suche nach dem idealen allergie-freien, attraktiven und ohne krebs-gene designten embryo-klon ist bereits gesellschaftliche wirklichkeit. die letzten verbleibenden oder entstehenden schäden werden schließlich durch unsichtbare neuroprothesen behoben.
in dieser kultur kommt den körperpsychotherapeutischen verfahren mit ihren arbeitsmöglichkeiten zur wiederherstellung eines einheitlichen erlebens der person in ihren vielfältigen ausdrucksformen in zukunft eine wichtige rolle zu. die behandlung von störungen des so genannten ‚zweiten körpers‘ ist dabei insofern von besonderer praktischer bedeutung, als eine korrektur auf dieser ebene unserer erfahrung allen weiteren, unseren phänotyp, also unser leibliches erscheinen in der konsensrealität betreffenden aspekten vorauszugehen scheint. insofern sind neue und weitere forschungen auf diesem noch jungen gebiet wissenschaftlicher und praktischer erkenntnisse sicher als zentral für die fachliche relevanz der körperpsychotherapie im bereich der psychotherapeutischen verfahren des gesundheitssystems allgemein einzuschätzen.
hier ist eine rasche und ergebnisorientierte mitwirkung aller beteiligten für das wohl der psychosozialen entwicklung im ganzen von hoher bedeutung. in diesem sinne wünscht sich der autor vielfältiges und kreatives feed-back auf diesen artikel.
literatur
01. ende, michael; momo; stuttgart 1973; s.130ff
02. reich, wilhelm; die funktion des orgasmus; köln 1987; s.203ff
03. keleman, stanley; verkörperte gefühle; münchen 1992; s.173. die verwendung der abb. erfolgt mit freundlicher genehmigung vom centerpress verlag/new york 2008
04. küpper/müller/unland; identität und selbstkonzept; unveröffentlichte studienarbeit 2002
06. sacks, oliver; der tag an dem mein bein fortging; reinbek 1993; s.66
07. ders.: fallbeispiel: der mann der aus dem bett fiel; in: der mann, der seine frau mit einem hut verwechselte; reinbek 1990; s.85
08. lowen, alexander; der verrat am körper; reinbek 1982; s.27ff
09. nádas, peter; der eigene tod; göttingen 2002, s.265
10. murphy, michael; der quantenmensch; wessobrunn 1996; kapitel 5.4. und 19.1-5; s.115ff und 439ff
11. garfield, patricia; kreativ träumen; interlaken 1983
12. castaneda, carlos; die kunst des träumens; frankfurt/m. 2001
13. ramachandran, vilaynur; die blinde frau die sehen kann; reinbek 2002; s.114f
14. hippokrates, die werke des; bd.1; lebensordnung 4. buch, die träume; 1933
15. mindell, arnold; der leib und die träume; paderborn 1987
16. ders.; quantengeist und heilung; petersburg 2006
17. geshe tenpa choephel; interview in: www.tibet.de, vom 11.12.2007
18. steiner, rudolf; GA 234, s.116-123
19. monroe, robert a.; der zweite körper; münchen 2000
20. gebser, jean; ursprung und gegenwart erster teil; schaffhausen 2007, s.56
21. brecklinghaus, hans georg; die menschen sind erwacht, du hast sie aufgerichtet – körperstruktur und menschenbild des alten ägypten und heute; norderstedt 2002
22. schippberges, heinrich; leiblichkeit, aachen 2001; s.49
23. bonnier, pierre; memoires originaux: l’achematie; in: revue neurologique, no.12; paris 1905 (private übersetzung)
24. zane, frank; den traumkörper entwickeln; in: zeitschrift: was ist erleuchtung? frühjahr 2008
25. murphy, michael, a.a.o., kapitel ‚gestaltwandlung‘, s.540
26. schlage, bernhard; die entdeckung des (un)möglichen; berlin 2008; s.68 13
27. singer, wolf; selbsterfahrung und neurobiologische fremdbeschreibung; in: DZPhil, berlin 52; 2004; s.235-255
28. stern, daniel; die lebenserfahrung des säuglings; stuttgart 2007; s.107
29. duerr; hans peter; traumzeit; frankfurt/m. 1984; kapitel über hexensalben, s.17ff
30. hawking, stephen; eine illustrierte kurze geschichte der zeit; reinbek 1997, s.200ff
31. greene, brian; der stoff aus dem der kosmos ist; münchen 2008; s.494ff
32. bayne, tim; levy, neil; body integrity disorder; in: journal of applied philosophy, Vol 22, no.1, 2005
33. röhricht, frank; joraschky, peter; loew, thomas; körpererleben und körperbild; stuttgart 2009; s.34
34. weiss, halko; marlock gustl; handbuch der körperpsychotherapie; stuttgart 2006
35. wilber, ken; integrale psychologie; freiamt 2001; s.107ff
36. merleau-ponty, maurice; das primat der wahrnehmung; frankfurt/m./main 2003; s.34
37. baumgarten, a.g.; texte zur grundlage der ästhetik; hamburg 1983; s.21
38. hauner, andrea; reichart, elke; bodytalk; münchen 2004