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… so wie feuer der anfang des lichts ist

beitrag in einem kurzgeschichtenband, h. w. holzinger verlag, 1995

eine muschelgeschichte

wir befinden uns in einem fernen land. im südlichen pazifik, dort wo es diese vielen kleinen inseln gibt. der himmel ist strahlend blau, und die sonne steht hoch und wärmt angenehm den körper. man möchte sich räkeln und strecken. das wasser leuchtet türkisfarben, und wenn man seine hand hineinhält, ist es angenehm warm. es ist so klar, dass man die runden steine am meeresboden sehen kann.

wir sehen die tiefe und klarheit des wassers. sein strahlen leuchtet auch in die seele und berührt erinnerungen an urlaub: sich ausspannen, ausruhen, muße haben und einfach da sein.

in einem geschützten teil des strandes im sand liegen und sich in der sonne wärmen. um die beine spült das meer und in den ohren klingt das gleich­ mäßige plätschern der sich im strand verlaufenden wellen. man möchte meinen, dass die seele sich mit jeder welle mehr und mehr lockert und entspannt und sich der unendlichen ozeanischen weite nähern möchte.

jede pore des körpers saugt dieses licht und diese wärme auf. und weich und entspannt überlassen wir uns den bewegungen des wassers. die gedanken wandern ins meer hinein, in die angenehme feuchte wärme unter wasser, in richtung auf den sandigen grund. hier und da liegen größere steine, rundgespült vom steten fluss der weichen kraft des wassers.

hier, eine muschel. nein, genauer zwei. wie zufällig liegen sie nebeneinander, von den wellen an diesen ort gespült.

was machen die beiden muscheln? sie sind zu, zahn in zahn. ihre beiden deckel sind ineinander geklappt. nichts tut sich.

da, plötzlich geht die eine auf, und wir sehen für einen winzigen moment die ungeheure perlmuttene schönheit in ihr.

schwupp, ist sie wieder zu. dann öffnet sich die andere, und wir sehen dieses kleine, weiche und verletzliche innere dieser muschel.

schwupp, ist auch sie wieder zu. was wohl die eine von der anderen denken mag? sieht doch jede von der anderen immer nur diese beige-graue, harte und kalkige schale!?

es geht hin und her. mal öffnet sich die eine, mal die andere. das wasser plätschert, ein paar sandkörner werden um sie herum gespült, und der fels im hintergrund liegt still im wasser. unwirklich kräuselt sich das licht.

da plötzlich öffnen sich beide wie zufällig im selben moment und – bleiben offen – und offen – und …

schwupp, geht die eine wieder zu. irritiert bleiben der anderen noch eine weile die deckel offenstehen, und erst als ein kleiner fisch neugierig in ihr inneres lugt, klappt sie rasch zu. lange geschieht nichts.

kennen sich die muscheln vielleicht? haben sie ihr perlmuttenes innenleben vorher schon einmal gesehen? welch‘ tiefe verwirrung kann dadurch ausgelöst werden, dass zwei sich einfach nur einen moment sehen?! wirklich ihr weiches, verletzliches inneres er­ kennen.

jetzt geht die eine auf, sieht die andere verschlossen und klappt zu. pause. dasselbe noch einmal. pause. dann die andere. es ist tragisch, immer wieder sehen sie ihr gegenüber nur verschlossen. dann gehen wieder beide auf und wieder zu.

verstohlen blickt die eine aus dem halb geöffneten deckel hervor, um zu sehen, ob sich die andere wohl öffnet, und sie einen blick von deren verletzlichkeit erhaschen kann, ohne sich selbst zu öffnen. die andere aber wartet auf eine gelegenheit, der einen, sobald sie sich öffnet, einfach ein hölzchen zwischen die deckel zu stecken, um sich an ihrer schönheit endlich einmal satt sehen zu können.

das tut sie natürlich in unwissenheit über ihre eigene schönheit, die sie selbst nicht wahrnehmen kann, da es ja im geschlossenen zustand in ihr dunkel ist. und auch wenn sie sich öffnen sollte, ist ihre begierde auf die andere muschel so groß, dass sie ihre eigene schönheit nicht wahrnimmt.

ein winziger, zufälliger moment, hat das leben der beiden muscheln verändert. ein moment, in dem sie beide einander sahen: offen, verletzlich.

die eine muschel gelangt zu der einschätzung, dass sie die schönere der beiden sein muss. allerdings ist sie sich nicht ganz sicher darüber, und sie hat bislang keine möglichkeit gefunden, diese idee zu überprüfen.

plötzlich werden die beiden von einer welle sehr nahe zueinander gespült, und als sie sich das nächste mal öffnen, klappen sie vor schreck ganz schnell wieder zu. einige der zähne ihrer deckel geraten ineinander und kalkstücke splittern ab.

aua! na so was aber auch. was glaubt sie denn, wer sie ist, dass sie mir hier erst so nahe auf die schale rückt und dann auch noch ein stück abbricht. nein, also so was!

sie erinnert sich an eine begegnung mit einer geheimnisvollen muschel, die dachte, die schönheit aller anderen durch ein kunstvolles und exklusives ambiente aus unter wasser aufgefangenen metallteilen zu er­ setzen. es soll sogar muscheln geben, die sich mit absicht gegen steine spülen lassen, um so ihre schale zu beschädigen und ihr verletzliches innenleben zur schau stellen zu können.

und überhaupt, woher kommt sie denn bloß? vielleicht ist das so eine muschel aus der muschelkolonie neben dem großen felsen, wo sie immer so dicht aufeinander hocken, dass nur die stärkeren muscheln ihren platz behaupten können? nein, die passt sicher nicht zu mir. mir nämlich wurden beide eltern von einem muschelfressenden fisch mit einem happs weg­ gefressen, und ich musste bisher immer alleine auf meiner felskante zurechtkommen! da lass ich mir doch nicht von so einer einfach ’n zacken in die deckel brechen. aber vielleicht täusche ich mich ja auch in ihr. sie sah so bezaubernd aus, als ich vorhin ihr inneres erblicken konnte.

aber nein, vermutet die andere. sie ist sicher nur durch zufall hierher gespült worden, und wahrscheinlich hat sie gar kein interesse an mir. aber warum hat der große ozean sie denn hierher gespült? warum müssen wir uns gerade hier begegnen? wer ist dieser große ozean überhaupt und was hat er (oder sie) mit uns im sinn? ja, ist er denn überhaupt bei sinnen, dass er mich hier an diesen fleck spült, ausgerechnet neben dieses eingebildete exemplar von muschel! nein, ich werde mich keineswegs mehr öffnen. peinlich genug, dass mir das vorhin passiert ist. pfft!

schon kommt eine welle und spült beide wieder aus­ einander. na, siehst du. ich hab’s ja gleich gewusst. es sollte halt nicht sein. und doch, aus der ferne kann ich ja noch mal einen blick wagen! nein, welch‘ eine muschel. jetzt liegt sie da im sand, mit sperrangelweit offenen deckeln und lässt das licht in ihrem perlmuttenen inneren spielen. nein, wie faszinierend. was für eine muschel. wenn ich doch nur hier wegkäme. ich würde ihr haufenweise meeresschätze schenken. algen und edelste sandkörner und luftblasen – und was weiß ich nicht alles. nein, was für eine schönheit!

die eine klappt auf, die andere wieder zu und ewig mag das spiel so weitergehen. wenn nicht die wellen des meeres die geschicke der beiden muscheln immer wieder wandeln würden. wie klein, wie seltsam der dialog der beiden muscheln angesichts der weite des ozeans erscheint.

sand spült über den meeresboden. fische schwimmen, aufmerksam das schauspiel betrachtend, um die muscheln herum. im wasser liegen die nackten füße eines menschen, zwischen dessen zehen sich algen verfangen haben; die unendliche weite des ozeans, die unsere seele weitet und entspannt, der blaue himmel mit der wärmenden sonne. in der nähe eine düne mit weichem strandgras, dessen bewegungen im wind spuren im sand hinterlassen. spuren der erinnerung, die in den muscheln aktiv bleiben. spuren der sehnsucht nach jener öffnung, die der anfang der liebe ist.

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